Die Prinzipien der Bögen und Perlen

Dieser Abschnitt geht auf die Prinzipien der Bögen und Perlen ein. Mit Bogen ist dabei ein Bogen aus dem Bogenschießen gemeint.

Die alten Tai Chi-Meister haben verschiedene Schriften hinterlassen, um aus ihrer Sicht wichtige Methoden und Prinzipien der Tai Chi-Praxis festzuhalten und weiterzugeben. Eine dieser Schriften sind die „Erklärungen zum Tai Chi“ (太極拳解) von Wu Yuxiang (武禹襄, 1812-1880). Wu Yuxiang war ein langjähriger Wegbegleiter bzw. auch Schüler des Yang-Stil-Gründers Yang Luchan (1799-1872) und gilt als Begründer des Wu/Hao-Stils. Die Hinweise zu den beiden Prinzipien stammen aus dieser Schrift.

Das Prinzip der Bögen

Das Prinzip der Bögen beschreibt Wu Yuxiang so:

蓄勁如張弓、發勁如放箭。
Die Übersetzung lautet: „Die Energie [Jin-Kraft] wird wie bei einem gespannten Bogen gespeichert und wie beim Abschießen eines Pfeils freigesetzt.“

Dieses Bild eines gespannten Bogens zieht sich durch alle Tai Chi-Stile, auch wenn es leichte Unterschiede in den Details gibt. Um einen Bogen beim Bogenschießen aus der Ruhestellung heraus zu spannen, ist zunächst kinetische Energie (Bewegungsenergie) notwendig. Diese Energie wird dann im gespannten Zustand in potentielle Energie (Spannenergie) umgewandelt. Diese Spannenergie wiederum kann jederzeit mit dem Loslassen des Pfeils wieder als kinetische Energie an den Pfeil abgegeben werden, der dadurch den Bogen verlässt und ins Ziel fliegt.

Ein gespannter Bogen am Beispiel eines japanischen Kyūdōka

Überträgt man das Bild des Bogens auf das Tai Chi, so stellen die Bewegungen mit ihrer elastischen Struktur den gespannten Bogen dar. In dem Moment, wo ein Gegner Kraft von außen auf den Körper ausübt, wird dieser Kraftimpuls auf den Gegner zurückgeworfen. Der Gegner wird zum Pfeil, der den gespannten Bogen verlässt.

Man spricht zunächst von fünf Bögen, die man in einer Haltung bzw. Bewegung bildet. Bei der Zuordnung der Bögen gibt es je nach Tai Chi-Stil leichte Unterschiede. Im Chen-Stil1 gibt es beispielsweise die Zuordnung Rumpf, Arm zu Arm, Bein zu Bein und für jede Körperseite Arm zu Bein (siehe links im Bild unten). Im Yang-Stil und Wu/Hao-Stil ordnet man die fünf Bögen dem Rumpf und den vier Extremitäten zu (siehe rechts im Bild unten):

Verschiedene Versionen der fünf Bögen

Entscheidend ist, dass mit Hilfe der fünf Bögen eine elastische Struktur hergestellt wird, die den gesamten Körper einbezieht. Wenn die fünf einzelnen Bögen gut miteinander synchronisiert sind, bilden sie gemeinsam einen einzigen großen Bogen für den ganzen Körper.

Das Bogen-Prinzip kommt nicht von ungefähr. Die alten Meister verfügten über ein ausgezeichnetes Körpergespür und detailliertes Wissen über Körpermechanik und -energetik. So ist es interessant, dass im Zusammenhang von myofaszialen Leitbahnen (siehe hier einen gesonderten Abschnitt dazu) das Bild eines gespannten Bogens ebenfalls auftaucht. Als Beispiel sei das Zusammenspiel von tiefer Frontallinie und Laterallinie in den Beinen genannt, das von Thomas W. Myers2 mit einem gespannten Bogen beschrieben wird.

Einen guten Eindruck der elastischen Körperstruktur erhält man auch bei den Werken des kanadischen Designers Tom Flemons (1953-2018), der sich mit dem Thema „Tensegrity“ beschäftigte. Einen Überblick über einige Werke finden Sie hier.

Die neun Perlen

Das Bild der so genannten neun gebogenen Perlen (jiu qu zhu 九曲珠) taucht ebenso in der bereits oben erwähnten Schrift von Wu Yuxiang auf. Dort heißt es:

行氣如九曲珠、無微不到。
Übersetzt heißt dies etwa „Das Qi bewegt sich wie neun gebogene Perlen, bis ins kleinste Detail.

Wie ist dieses Bild zu verstehen? Meistens lautet die Interpretation so, dass bei einer Bewegung stets neun Körperstellen miteinander verbunden werden sollen. Auf diese Weise kann sich der Körper ohne Brüche und Lücken ganzheitlich bewegen. Diese Interpretation ist korrekt, aber nicht ganz vollständig.

Zunächst einmal ist zu klären, um welche Körperstellen es sich konkret handelt. Es sind die Hauptgelenke in Armen und Beinen (Hand-, Ellbogen-, Schulter-, Hüft-, Knie- und Fußgelenk) und drei Stellen im Rumpf. Durch die bewusste Verbindung dieser Stellen wird in der Tat der gesamte Körper einbezogen und die Bewegung stabil. Mit diesem Fokus zu üben ist eine effektive Körperschulung.

Damit hört das Prinzip der neun Perlen jedoch nicht auf, sondern dann fängt es erst an interessant zu werden. Wichtig ist zunächst die Reihenfolge der neun Perlen. Diese ist nicht beliebig, sondern klar definiert.

Weiterhin ist es hilfreich, sich einmal das Bild einer Perlenkette vor Augen zu führen:

Auf eine Schnur aufgefädelte Perlen

Die Perlen sind auf einer Schnur aufgefädelt, die man frei durch die Perlen bewegen kann. Das bedeutet zum einen, dass die Perlen locker und durchlässig sein müssen, ansonsten ließe sich die Perlenschnur nicht bewegen. Entsprechend müssen auch die oben genannten neun Körperstellen unbedingt locker und durchlässig, sprich frei von Anspannung sein. Zum anderen lässt sich die Schnur der Perlenkette aktiv bewegen, sie ist nicht starr. Dies ist das Qi, von dem Wu Yuxiang schreibt. Und da das Qi immer der Absicht (yi) folgt, kommt auch dieser Aspekt notwendigerweise hinzu.

Das Prinzip der neun Perlen ist damit also kein rein statisches „Korsett“, dafür wäre ein anderes Bild vermutlich passender gewesen. Bei den neun Perlen handelt es sich um ein Prinzip, das aktiv auf eine definierte Art und Weise eingesetzt werden kann. Es enthält sowohl körperbezogene als auch nicht körperliche Aspekte. Korrekt ausgeführt, wird es zu einem sehr starken Instrument.

Schließlich heißt es noch, dass die Perlen gebogen sind. Das Zeichen 曲 (qu) für „gebogen“ oder „gekrümmt/krumm“ hätte ja auch weggelassen werden können, wenn es nicht wichtig wäre. Aber es wird ausdrücklich erwähnt, insofern spielt es auch eine Rolle. Überträgt man das Bild der neun Perlen mit der Perlenschnur auf eine Tai Chi-Bewegung, wird die Bedeutung schnell klar. Durch die Verbindung der neun Körperstellen entsteht eine Art elastischer Bogen, der den gesamten Körper einbezieht. Die optimale Voraussetzung also zum Einsatz der Federkraft. Der Bezug zu den anfangs erwähnten Bögen wird deutlich.

  1. Siehe beispielsweise die Erklärung von Chen Zhonghua: https://practicalmethod.com/2013/02/five-bows-of-taijiquan/ ↩︎
  2. Thomas W. Myers, „Anatomy Trains – Myofasziale Leitbahnen für Manual- und Bewegungstherapeuten“, 4. Auflage, S. 195. ↩︎